Aktionswoche Selbsthilfe: „Irgendwann merkt man, dass etwas nicht stimmt – und holt sich Hilfe“

Unter dem Dach des Paritätischen Mecklenburg-Vorpommern sind landesweit vielfältige Selbsthilfeangebote in den Vereinen organisiert. Allein 160 Selbsthilfegruppen treffen sich in und um Schwerin herum bei der KISS. Ein Blick hinter die Kulissen.

Kein Fleisch, kein Zucker, keine Kohlehydrate. „Dass meine Tochter ihren Speiseplan auf gesunde  Ernährung umstellen wollte, fand ich zunächst gut“, sagt Bärbel B. Doch aus dem Wunsch nach einer gesunden Lebensweise und einer guten Figur wurde ein Wahn. Die 17 –jährige Lene wurde immer schmaler. „Irgendwann merkt man, dass etwas nicht stimmt. Als die Waage nur noch 47 Kilogramm anzeigte, war klar, unser Kind ist schwer erkrankt und muss ins Krankenhaus.“

Lene ist kein Einzelfall. Das merkt ihre Mutter, als sie sich nach dem Krankenhausaufenthalt ihrer Tochter mit ihren Sorgen auf die Suche nach einer Selbsthilfegruppe für Eltern macht. Und sie in der Schweriner KISS findet. „Angehörige sind großen Herausforderungen ausgesetzt, wenn ein Familienmitglied erkrankt“, sagt die Geschäftsführerin der Schweriner Selbsthilfekontaktstelle (KISS)  Sabine Klemm. „Magersucht, Esssucht, Demenz – das muss man aushalten. Sich in einer Gruppe auszutauschen, sich gegenseitig Tipps und Hilfestellungen zu geben, stärkt ungemein.“

„Wir hilft“, lautet daher das Motto der Aktionswoche Selbsthilfe, die in dieser Woche noch bis zum 11. September auf Initiative des Paritätischen Gesamtverbands gemeinsam mit seinen Landesverbänden stattfindet. Ziel der Aktionswoche ist es aufzuzeigen, wie vielfältig, innovativ und unverzichtbar die Selbsthilfe im Alltag für Millionen Menschen in Deutschland ist. 

Neben einer medizinischen oder therapeutischen Behandlung ist das Miteinander in einer Selbsthilfegruppe häufig eine sinnvolle Ergänzung für Betroffene, um wieder Kraft und Mut zu schöpfen. Das bestätigt Lenes Mutter: „In unserer Gruppe tauschen wir uns aus, wie wir unseren Kindern und uns selbst helfen können. Das erleichtert den Alltag ein Stück weit.“

Diese Menschen zusammenzubringen, eine passende Gruppe zu finden, ist eine wesentliche Aufgabe von Selbsthilfekontaktstellen. Neun Selbsthilfekontaktstellen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern. Seit zehn Jahren leitet Sabine Klemm eine davon. 72 Selbsthilfegruppen treffen sich unter dem Dach ihrer KISS Schwerin allein in der Landeshauptstadt, das Umland mitgerechnet sind es 160. Landesweit sind mehr als 800 Selbsthilfegruppen zu den unterschiedlichsten Themen erfasst, Tendenz steigend. Das Spektrum in der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe reicht von körperlichen oder psychischen Erkrankungen, Sucht, Behinderung, Angehörigen- und Elterngruppen bis hin zu besonderen Lebenskrisen oder sozialen Problemlagen. Herz-Kreislauf-Leiden, Allergien und Zwangsneurosen gehören genauso dazu wie Gruppen zu Post-Covid-Syndromen oder Mobbing. „Selbsthilfe hat viele Gesichter und der Bedarf ist riesig“, berichtet Klemm. „Manchmal sind auch ganz seltene Erkrankungen dabei, zu denen die Menschen Austausch suchen. In diesen Fällen besteht die Möglichkeit, sich einer virtuellen Gruppe anzuschließen, in der dann bundesweit Betroffene zusammenkommen.“

Der Bedarf an Unterstützung und Begleitung wachse seit der Corona- Pandemie noch mehr als zuvor. Im Vergleich zu 2016 haben sich die Beratungszahlen 2020 nach Aussage der Selbsthilfekontaktstellen fast verdoppelt. Neben Anfragen von Betroffenen hätten insbesondere Eltern- und Angehörigengruppen stark zugenommen. „Essstörungen und psychische Erkrankungen stehen ganz oben auf der Liste der Anfragen“, sagt Sabine Klemm.  

Neben Vermittlung, Finanzen, Raumkoordination, Veranstaltungen und Gruppengründungen ist Netzwerkarbeit eine wichtige Komponente der Selbsthilfearbeit. Doch während Anfragen und Aufgaben steigen, wachse die finanzielle Unterstützung für die Selbsthilfe leider nicht, bedauert die Geschäftsführerin. Seit 2013 stagniere die Förderung des Landes in Höhe von jährlich 22.500 Euro für die KISS. „Das Geld reicht seit Jahren  hinten und vorne nicht, wurde nie dynamisiert und schon gar nicht an die Teuerungsrate angepasst“, so Klemm. Um die Grundlage für eine solide Arbeitsfähigkeit der Selbsthilfekontaktstellen zu legen, bedürfe es einer zuverlässigen und auskömmlichen Finanzierung des Landes.

„Selbsthilfe ist als vierte Säule des Gesundheitswesens ein fester Bestandteil unseres Gesundheitssystems und ergänzend zur professionellen Versorgung nicht mehr wegzudenken“, sagt auch der Vorsitzende des Paritätischen Mecklenburg-Vorpommern Friedrich Wilhelm Bluschke. Aus der wechselseitigen Unterstützung und Motivation von Betroffenen untereinander ergebe sich nicht nur eine Entlastung für die Menschen in der Gruppe, sondern auch in Form von Kosteneinsparungen für das Gesundheitssystem.

Der Paritätische ist der Selbsthilfebewegung eng verbunden. Zu den mehr als 10.800 Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Gesamtverbands gehören viele bundesweite und regionale Selbsthilfeorganisationen. Die Paritätischen Landesverbände und ihre Mitgliedsorganisationen sind Träger von 130 der 300 Selbsthilfe- und Unterstützungsstellen in Deutschland.

Unter dem Dach des Paritätischen Mecklenburg-Vorpommern sind neben der KISS in Schwerin landesweit vielfältige Selbsthilfeangebote in den Vereinen organisiert.  „MV bietet eine starke Selbsthilfe, aber es gibt auch viele weiße Flecken. Um dem drastisch erhöhten Beratungsbedarf der vergangenen Jahre gerecht zu werden, muss Selbsthilfe endlich durch verlässliche Rahmenbedingungen gestärkt und gesichert werden“, fordert der Verbandsvorsitzende Bluschke.

Nach mehr als 30 Jahren erfolgreicher Arbeit sei es an der Zeit, die Förderung der Selbsthilfekontaktstellen zu institutionalisieren, findet Sabine Klemm, mindestens jedoch mit einer Verpflichtungsermächtigung auszustatten. Damit sie ihre Bürokraft besser bezahlen und dadurch halten kann, verzichtet sie seit Jahren auf einen Teil ihres Lohns. Gerade hat sie ihre Wochenstunden reduziert. Natürlich arbeitet sie trotzdem in Vollzeit weiter. „Wir sind ein wichtiger Anker im Leben vieler Menschen hierzulande“, sagt sie. So wie für Bärbel und ihre Tochter Lene. „Den wollen wir ihnen nicht nehmen.“ Aber wenn die finanzielle Situation so bleibt, wie sie ist, sieht Klemm die Angebotsvielfalt in Gefahr. „So, wie wir den Menschen in den Gruppen neue Perspektiven geben für ihr Leben, wünschen auch wir uns für den Erhalt der  Strukturen eine echte Perspektive.“

Weitere Informationen zur Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle für Selbsthilfegruppen Schwerin e.V. (KISS) unter www.kiss-sn.de

Informationen zur Aktionswoche Selbsthilfe und den Veranstaltungen unter www.wir-hilft.de.